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Interview mit Dr. Riecke-Baulecke, Präsident des ZSL

In „Gymnasium Baden-Württemberg. Zeitschrift des Philologenverbandes Baden-Württemberg“ ist in Ausgabe 11–12/2019 folgendes Interview mit Dr. Thomas Riecke-Baulecke, dem Präsidenten des ZSL erschienen:


Thomas Riecke-Baulecke im Gespräch mit Gymnasium Baden-Württemberg

Thomas Riecke-Baulecke ist als Präsident des ZSL (Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung) zuständig für über 5000 Mitarbeiter und alle Lehrkräfte im Land. Im Interview stellt er sich den Fragen unserer Verbandszeitschrift.

Sie waren als Sozialarbeiter in Hamburg tätig, bevor Sie in das Lehramt gewechselt haben. Inwieweit hat Sie dies in Ihrer Arbeit mit Menschen geprägt? 

Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hat mir stets viel gegeben, mir Sinn des Tuns vermittelt. Ich konnte schnell lernen, dass gerade Jugendliche in schwierigen Situationen eben beides brauchen, Zuwendung und Vertrauen in ihre Kräfte als auch Klarheit in den Erwartungen und Regeln.

Sie sind seit dem 1. März dieses Jahres [2019] Präsident des ZSL und leiten somit eine Mammutbehörde mit über 5000 Mitarbeitern. Wie würden Sie ihren Führungsstil bezeichnen?

Ich schätze Partizipation und Klarheit – beides bedingt sich. Expertenorganisationen funktionieren nicht nach dem Top-Down-Prinzip. Wir brauchen Kreativität, innovatives Denken und das finden wir überall, vor Ort in den Schulen und in den Seminaren, das soll die Arbeit in der ‚Zentrale‘ und in den Regionalstellen prägen. Mir ist direkte Kommunikation wichtig; anstatt umständliche Wege zu gehen, sollten wir uns an einen Tisch setzen – das kann gerne auch ein virtueller sein – und Probleme erörtern, Pläne entwickeln und diese praktisch werden lassen. Ich setze auf Dialog, Meinungsbildung, dann aber auf Entscheidungen und Konsequenz in der Umsetzung. Beliebigkeit und Unverbindlichkeit sind nicht meine Freunde.

Sie bezeichnen Gymnasien als ‚hochintegrierende Systeme‘. Was verstehen Sie darunter?

Erinnern wir uns: Vor einigen Jahrzehnten lag die Gymnasialquote bei unter zwanzig Prozent. Heute ist sie mehr als doppelt so hoch und das Leistungsniveau der Gymnasien in Deutschland ist im Durchschnitt weitgehend konstant geblieben. Dass Deutschland nach dem PISA-Schock 2001 zu den Aufsteigerländern gehört, liegt auch daran. Diese Leistung der Gymnasien wird vielfach unterschätzt. Zugleich muss ich hinzufügen, dass die duale Ausbildung als zentrales Standbein des deutschen Bildungssystems ebenso wichtig ist. „Abitur für (fast) alle“ ist weder eine sinnvolle, noch eine realistische Forderung.

Warum sind Vergleichsstudien wie zum Beispiel der IQB-Ländervergleich 2015 Ihrer Meinung nach so wichtig?

Inzwischen ist der Ländervergleich durch den IQB-Bildungstrend ergänzt worden, so dass Entwicklungen analysiert werden können, das ist ein Meilenstein im deutschen Bildungsmonitoring. Erstmals verfügen wir über Daten in Hinsicht auf Veränderungen und diese sind sehr interessant und teilweise hochbrisant, was wir für unser Bundesland ja erleben durften. Was fehlt, sind Untersuchungen zu den Ursachen bestimmter Entwicklungen. Mit Sorge beobachte ich, dass in einigen anderen Bundesländern wieder Distanz zur Empirie entsteht. Bei allen Unzulänglichkeiten sollten wir uns nie wieder einem ‚PISA-Schock‘ aussetzen, der de facto die kollektive Ignoranz im deutschen Bildungssystem über den tatsächlichen Zustand zum Ausdruck brachte. Wer die Augen wieder vor Wirklichkeiten zumachen möchte, wird ein böses Erwachen haben. Der Bildungsstand in Deutschland ist zu wichtig, um darüber wieder in Spekulationen zu verfallen.

Baden-Württemberg hat seit geraumer Zeit auf vielen Ebenen einen stetigen Abwärtstrend in der Bildungsqualität zu verzeichnen. Welche Faktoren verbinden Sie mit diesem?

Um es vorweg zu sagen: Ich erlebe hochengagierte Lehrkräfte und Schulleitungen hier im Ländle, das ist nicht unser Problem. Die wohl wichtigsten Ursachen liegen in einer stark veränderten Schülerschaft mit einem Anteil von rund vierzig Prozent Schülerinnen und Schülern, die gravierende Sprachprobleme haben, und in der Frage, welche Antworten im letzten Jahrzehnt darauf gegeben worden sind. Die Stärke des Abwärtstrends ist möglicherweise auf Kompositionseffekte zurückzuführen, in denen das eine zum anderen kommt und Verstärkungsmechanismen entstehen. Wenn die Klarheit der Leistungserwartungen, die Rolle der Schulaufsicht und der Lehrkräfte in ihrer Erziehungs- und Bildungsaufgabe relativiert werden, kann es zu Schwächungen des Systems kommen. Dass die entsprechenden Weichenstellungen viele Jahre zurückliegen, ist typisch für Bildungssysteme, in denen die Wirkungen von Entscheidungen erst mit großer Zeitverzögerung sichtbar werden. Die hohe Fragmentierung in der Fortbildung, mangelndes Bildungsmonitoring und geringe Kohärenz in der Lehrerbildung haben es sicherlich erschwert, wirksame Antworten auf die Herausforderungen zu finden und umzusetzen. 

Welche Rolle ordnen Sie den neuen Instituten ZSL und IBBW bezüglich der Qualitätsoffensive in der Bildung in Baden-Württemberg zu?

Ich erlebe im ZSL und in den Seminaren ein bemerkenswertes Engagement für die Sache der Schulen, Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler. Unsere Aufgabe ist es, einerseits das Gute in der Lehrerbildung zu bewahren und zugleich neue Impulse zu setzen. Eine sehr, sehr große Herausforderung ist, dass diese Aufgabe parallel mit dem Aufbauprozess und dem ZSL-Qualitätsdialog zu leisten ist. Mir war es von Anfang an wichtig, den Dialog mit Lehrkräften, Schulleitungen, Schulaufsicht und Seminaren zu suchen. Ich möchte deutlich machen, dass das ZSL nur dann gute Arbeit machen kann, wenn wir zuhören, Rückmeldungen zu unseren Ideen einholen und Qualität gemeinsam mit den Akteuren vor Ort entwickeln. Inzwischen habe ich rund sechzig Dialogveranstaltungen mit über 3000 Beteiligten durchgeführt. Ich habe viel in diesem Dialog gelernt, und die Rückmeldungen zeigen, dass wir mit dem Fokus ‚Qualität des Fachunterrichts‘ auf dem richtigen Weg sind.

Wie stellen Sie sich die Zusammenarbeit in den sechs Regionalstellen konkret vor? Welche Kooperationsszenarien sind hier geplant?

Die Regionalstellen haben ihre Arbeit aufgenommen, da ist noch einiges zu klären. In den letzten sechs Monaten habe ich rund einhundert Auswahlgespräche geführt, um die Stellen in der Zentrale und in den Regionalstellen zu besetzen. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen. Die ersten Schritte der Regionalstellenleitungen waren, die Fortbildung sicherzustellen und den Dialog in den Regionen mit der Schulaufsicht und den Schulleitungen zu beginnen. Ich setze auf starke ZSL- Regionen, in denen wir die Kooperation mit den Hochschulen, Schulleitungen und Schulen verstärken, sie systematisieren. Dazu gehört eine fachbezogene Teamstruktur aufzubauen, in der Aus- und Fortbildung zusammengebracht werden.

Sie betonen in Ihrer Arbeit immer wieder den Leistungsbegriff. Was verstehen Sie unter diesem und wie wollen Sie Leistung konkret fördern und fordern?

Die demokratische Schule ist über das Leistungsprinzip konstituiert. Leistung soll zählen und nicht soziale Herkunft, Glaube oder Geschlecht. Ein wichtiges Ziel von Schule ist es, die vielfältigen Leistungspotentiale von Kindern und Jugendlichen zu erkennen und möglichst gut zu fördern. Dazu gehört, dass gesellschaftliche Erwartungen transportiert und Leistungsanforderungen gestellt werden. Leistung fordern, Lernen fördern: das sind zwei Seiten einer Medaille, des Bildungs- und Erziehungsauftrags von Schule. Wichtig ist, den Leistungsbegriff weit zu fassen und nicht auf einfach messbare Teilaspekte zu reduzieren. Philosophieren, Malen, Musizieren, Klassensprechertätigkeit, soziales Engagement, Patenschaften – all das sind wichtige Leistungen, die Schülerinnen und Schüler erbringen.

Was sind für Sie Merkmale für guten Unterricht?

Eigentlich ist die Sache ganz einfach: Guter Unterricht zeigt sich auf Seite der Schülerinnen und Schüler am Zugewinn an Wissen und Können, an Interesse und Motivation, an Selbstregulierungsfähigkeiten und sozialer Kompetenz. Unterricht ist stets multikriterial und deshalb sind die Erfolgsfaktoren vielschichtig. Wesentlich sind die Tiefenstrukturen: kognitive Aktivierung, konstruktive Unterstützung und Klassenführung. Sie sind prädiktiv für den Lernerfolg. Die Sichtstrukturen sind zwar nicht prädiktiv, sie geben aber dem Unterricht ‚Farbe‘. Methodenvielfalt bleibt wichtig. Allerdings sollten wir nicht in die Falle der ‚Sichtstrukturdebatte‘ laufen, in der wir uns über ‚offenen‘ und ‚geschlossenen Unterricht‘ streiten. Erfolgversprechend ist ein lehrergelenkter und zugleich schülerorientierter Unterricht.

Wie würden Sie die Lehrerrolle beschreiben?

Lehrerinnen und Lehrer sind Führungskräfte und üben einen der wichtigsten Berufe in unserer Gesellschaft aus. Sie ermöglichen Bildung und Demokratiefähigkeit der nachwachsenden Generation. Lehrkräfte haben eine Vielfalt von Aufgaben: Sie klären Ziele, geben Impulse, sind Experten im Erklären, sie diagnostizieren, geben Feedback, sie fördern die Selbstständigkeit der Lernenden und sind immer wieder die ordnende Hand. Und nicht zu unterschätzen ist ihre Aufgabe, möglichst faire, an transparenten Kriterien orientierte Bewertungen vorzunehmen, Laufbahnentscheidungen vorzubereiten und zu treffen.

Wie stehen Sie zum Thema Digitalisierung des Unterrichts?

Wer sich an die Einführung der Sprachlabore und Overheadprojektoren noch erinnert, weiß: Mit Medien kann Sinnvolles und viel Unsinn betrieben werden. Die Herausforderung ist, digitale Kompetenz, die eine Art vierte Kulturtechnik geworden ist, sehr ernst zu nehmen und digitale Medien in pädagogisch sinnvoller Weise zu nutzen. Ein Blick in die globalisierte Welt zeigt, welche Dynamik inzwischen nicht zuletzt im Schulbereich entstanden ist. Es ist ganz schlicht: Nationen und Kulturen, die Zäsuren in wissenschaftlich-technischen Entwicklungen verschlafen, kommen ins Hintertreffen, um es einmal vorsichtig zu formulieren. Wir brauchen ein offensives und zugleich aufgeklärtes, kritisches Verhältnis zur digitalen Revolution. Das ZSL wird eine Fortbildungsoffensive zur sinnvollen Nutzung digitaler Medien starten.

Sie wollen die Fortbildungsformate in Baden-Württemberg verändern. In welche Richtung soll es hier gehen?

Seit einigen Jahren sagt uns die empirische Bildungsforschung, dass es auf längerfristig angelegte, kontinuierliche Fortbildung ankommt. Wirksame Fortbildung ist einerseits wissenschaftsbasiert, sie nutzt Erkenntnisse der Forschung, andererseits ist sie ‚schülerorientiert‘, sie thematisiert, was bestimmte Konzepte für das Lernen bedeuten. Das erfordert, Fortbildung praxisnah zu gestalten, den Austausch und die Reflexion zu befördern. Digitale Blended-Learning Formate, in denen Face-to-Face Kommunikation gemischt wird mit digitalen Formaten bieten dafür – eigentlich schon seit zehn bis fünfzehn Jahren – sehr gute Möglichkeiten. Aber auch ‚One Shots‘, wie es in der Forschung heißt, und Fachtage sind wichtig für Impulse und den Erfahrungsaustausch.

Welche Zusammenhänge sehen Sie zwischen Arbeitsmehrbelastungen bei den gymnasialen Lehrkräften einerseits und Qualitätsverlusten im Bereich der gymnasialen Bildung in Baden-Württemberg andererseits?

Die Arbeitsbelastung der Lehrkräfte und Schulleitungen ist hoch, daran besteht kaum ein Zweifel. Doch Befunde über Zusammenhänge gibt es kaum.

Viele Kolleginnen und Kollegen an den Gymnasien sind aufgrund der vielfältigen Belastungen nicht mehr in der Lage, mit vollem Deputat zu unterrichten. Wie wollen Sie die einhergehenden Mehrbelastungen der Lehrkräfte an dieser Schulart auffangen, um ihnen genügend Raum zu geben, guten Unterricht zu leisten? 

Ein wichtiges Kriterium für gelingende Fortbildung sollte sein, dass sie Lehrkräften Unterstützung bietet und nicht als zusätzliche Belastung wahrgenommen wird. Unsere Fortbildungsangebote müssen wir darauf hin überprüfen, ob sie den Lehrkräften und Schulleitungen helfen, das Lernen der Schülerinnen und Schüler möglichst gut voranzubringen und zugleich entlastend zu wirken und dann gegebenenfalls weiterentwickeln. Das ZSL sollte noch stärker den Blick auf die Fachkonferenzarbeit richten: Teamarbeit ist zwar kein Selbstzweck, sie kann aber im Sinne professioneller Kooperation durchaus zu Entlastungseffekten führen, wenn Einzelkämpfertum relativiert und gemeinsames Planen, Reflektieren, gegenseitige Hilfe sowie Wertschätzung gestärkt werden.

Vielen Dank für das Gespräch. E.G. 


Quelle

Gymnasium Baden-Württemberg. Zeitschrift des Philologenverbandes Baden-Württemberg, Ausgabe 11–12/2019, S. 4–6. ( Interview im PDF-Format )



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